„Eine Zeit ohne Tod“ von Jose Saramago
„Am darauffolgenden Tag starb niemand.“ So lapidar und zugleich aufrüttelnd beginnt der Roman „Eine Zeit ohne Tod“ von Literaturnobelpreisträger Jose Saramago, denn genau dies geschieht am Neujahrstag irgendeines Jahres in irgendeinem Land unserer Erde. Während jenseits der Grenzen dieser Nation weiter gestorben wird wie bisher, verwehrt irgendetwas allen unheilbar Kranken, den Opfern von Unfällen und jedem sonst unrettbar dem Tod Verschriebenen den Eintritt ins Totenreich.
Leben vom Tod, ohne Tod, durch den Tod?
Jose Saramago entführt den Leser mit wenigen Worten und frischer, ja schwungvoller Sprache in dieses Ausgangsszenario, um ihm alsbald – nicht ohne Augenzwinkern – die Folgen dieser zunächst positiv anmutenden Nachricht zu schildern. Denn nach der ersten Freude der Bevölkerung über das Hereinbrechen des ewigen Lebens, melden sich immer mehr Verlierer dieser Situation. Die Bestatter sehen sich von einem Tag auf den anderen ihrer Existenz beraubt. Die Krankenhäuser und Altenheime des Landes werden der immer stärker steigenden Zahl der Patienten nicht mehr Herr, da niemand diese Einrichtungen tot verlässt. Die Lebensversicherer müssen eilig an einem neuen Geschäftsmodell feilen und die Rentenkasse des Landes droht über kurz oder lang zusammenzubrechen. All jene, die im Normalzustand vom Tod leben, kämpfen nun um ein Überleben ohne Tod. Am schwersten trifft dies naturgemäß jene, deren Heilserwartung jenseits der Schwelle des Todes liegt; die Kirche(n). Doch auch die Autorität des Staates ist ohne die Androhung der letzten Konsequenz, des Todes, angekratzt.
Es ist fesselnd zu lesen, wie der seit Anbeginn der Menschheit existierende Traum vom Sieg über das Sterben sich schnell und unaufhaltsam in einen Alptraum verwandelt. Prompt regen sich die geschäftstüchtigen und kriminellen Triebe der Menschen, um auch daraus noch Kapital zu schlagen. Die “Maphia“ – orthographisch derart verunstaltet, um jede Verwechslung mit bestehenden Organisationen auszuschließen – übernimmt, zunächst im Verborgenen, dann unter Zuhilfenahme und Erpressung des Staates, den Abtransport derer, die zwischen Tod und Leben pendeln. Sie werden über die Grenzen geschafft, um dort ihren letzten Atemzug zu tun und danach als nicht länger existierendes Problem für Angehörige, Kirche oder Staat endlich unter die Erde gebracht werden zu können.
Plötzlich jedoch wendet sich hier der Roman und Saramago lässt die Verursacherin der Krise auftreten: In einem Brief kündigt „tod“ – vehement auf dem kleinen „t“ und ihrer Weiblichkeit bestehend – an, ihren Streik zu beenden und den Ursprungszustand des Sterbens zu restaurieren. Jedoch soll es zukünftig, zur Vermeidung allzu plötzlicher tragischer Todesereignisse, für jeden, den sie zu holen beabsichtigt, eine Ankündigung geben, die es ihm erlaubt seine Verhältnisse zu regeln und sich vorzubereiten. Diese Neuregelung hat zwei Effekte. Zum einen wird die von „tod“ angestrebte „Humanisierung“ des Sterbens zum Bumerang und ihr nun noch größere Grausamkeit nachgesagt. Zum Anderen gibt es eine Anomalie, die „tod“ sich nicht zu erklären vermag. Eine ihrer Benachrichtigungen lässt sich nicht zustellen, so dass ein Cellist ihr über sein vorherbestimmtes Todesdatum entkommt. Dieser ungeheuerliche Vorgang zwingt „tod“ zu eigenen Recherchen über jenen Cellisten, die sie auf ein ihr vorher unbekanntes Terrain führen; das der Liebe. Und so endet der Roman wie er begann mit dem Satz: „Am darauffolgenden Tag starb niemand.“ Zwischen diesen beiden Sätzen jedoch verbirgt sich ein aufrüttelndes, traurig stimmendes, zu Lachen reizendes und abseitiges Lesevergnügen.
Fazit
„Eine Zeit ohne Tod“ ist ein faszinierendes Leseabenteuer, das gleich auf zwei Ebenen überzeugt. Einerseits führt es geradezu „sachbuchartig“ und doch spielerisch vor Augen wie abhängig die menschliche Gesellschaft vom Tod ist und welche Verwerfungen dessen Ausbleiben letztlich verursachen muss. Dieses Gedankenexperiment, so erschreckend es zunächst erscheint, wird von Saramago in einer derart philosophisch-kurzweiligen und zum Teil grotesk-amüsanten Art geschildert, dass der Leser zwangsläufig zwischen Erschrecken und Lachen hin und her gerissen wird. Andererseits schafft es der Autor auch die Ebene des Liebesromans zu bedienen, wenn er „tod“ und die ihr neuen Empfindungen und Erfahrungen des unter den Menschen Wandelns und mit ihnen direkt Agierens schildert. Saramango, der 1998 als erster Portugiese den Literaturnobelpreis erhielt, bedient sich hierbei auch ungewöhnlicher sprachlicher Mittel. So verzichtet er weitgehend auf konventionelle Interpunktion und die Kennzeichnung wörtlicher Rede. Dies jedoch schadet dem Text und seiner Verständlichkeit nicht. Für alle die Saramago noch nicht kennen, dies aber ändern wollen, ist es daher ein ideales Einstiegsbuch. Für alle anderen ist es davon unabhängig ein herrliches und lange nachwirkendes Lesevergnügen.