Jonathan Franzen, Freiheit (Rowohlt 2010)/engl.Orig.: Freedom (Fourth Estate, London 2010)
Unser herzlieber Jonathan und aller Welt Großmaul Franzen hat, von den „Korrekturen“ zu „Freiheit“, weder Stil noch Erzählhaltung wesentlich korrigiert:
Zum Zweck, große erzählerische und historische Bögen zu bewältigen, übt er sich wieder in seiner unauffällig eleganten Erzähltechnik, mit der er auf ziemlich unnachahmliche Weise aus dem groben Plusquamperfekt der Rahmen-Gegenwartsgeschichte in die einfache Vergangenheit zoomt, in das eigentliche dialogische Präsenz seiner Protagonisten.
Zu diesen nimmt der Autor die bekannte, oft etwas herablassende ironische Grundhaltung ein.
Das hat mir vorerst – auf S.200 der deutschen, S.160 der engl. Ausgabe – die Lektüre vergällt; ich erlaube mir – da es das Regelwerk nicht ausdrücklich verbietet – eine Vorschau:
Um wen geht’s überhaupt?
Wir lernen ein junges Paar kennen, Patty und Walter, das heute, oder in jüngster Vergangenheit, im Großraum St.Paul/Minneapolis eine Vorstadt besiedelt. Die Nachbarschaft ist so homogen, dass ein bestimmtes Problem „mit dem Handbremsseil des 240er Volvos“ als Konsens-Thema durchgeht.
Andererseits werden wichtige Mikro-Distinktionen gemacht, die sich auf manchen Gebieten, z.B. der Kindererziehung, zu Lebensstil-Abweichungen mit Konsens-sprengendem Potential auswachsen:
z.B. ist Patty, eine der wenigen nicht-berufstätigen Mütter im Umfeld, so absorbiert von ihren Bemühungen, ihr verzogenes Söhnchen Joey gegen Alle zu verteidigen, dass dies in der Nachbarschaft als unangemessen verbucht wird.
Genauso als Abweichung vermerkt wird auf der anderen (Straßen-) Seite Carol, eine alleinerziehende Mutter, die im Vestimentären und Alimentären (also bei Klamotten und Ess-Gewohnheiten) Unterschicht erkennen läßt.
So ist diese Gesellschaft strukuriert, so erfahren wir von ihr.
Als Joey sich entscheidet, ausgerechnet Carols Tochter nicht nur zu vögeln, sondern deren ganze Familie (einschließlich Carols „unmöglichem“ neuen Lover) gegen seine eigene einzutauschen, macht dies, und der sich unvermeidlich anschließende Klatsch, es seinen Eltern unmöglich, weiter in dieser Nachbarschaft zu leben.
Von Pattys Jugend und Adoleszenz als Spitzen-Basketballerin (sowie von ihren resp. Walters familiären und gesellschaftlichen Hintergründen) erfahren wir im nächsten Kapitel, das als „von ihrem Therapeuten angeregte“ Autobiographie ausgewiesen ist: wie obsessiv sie Sport treibt, offenbart, auf dem Hintergrund ihrer Sohnes-Verehrung, ihre „Dummheit“, ihren süchtigen Charakter, zum dem Franzen auf die teilnehmendste Art in größtmögliche Distanz geht.
Mit diesen Personen, ihren Schwächen und Misserfolgen, die so sehr unseren eigenen ähneln, rückt uns Franzen, Einverständnis heischend, dermaßen auf die Pelle, dass man schier keine Luft mehr kriegt. Ein Beispiel?
Patty (S.199, dt.Ausg.) „von der Heftigkeit ihrer eigenen Trauer (beim Tod ihrer Schwiegermutter) überrascht“,…“ bemitleidete sich auch selbst, wie Menschen es immer tun, wenn sie andere bemitleiden, die einsam und verlassen gestorben sind.“
Moment, Jonathan, „wie Menschen es immer tun..“: warum bleibt diese Verallgemeinerung nicht mir, dem Leser überlassen; warum darf ich nicht, verdammt, meinen eigenen Hang zum Selbstmitleid ohne dein weises Salbadern erkennen?!
Beispiel 2 (zehn Seiten zuvor): Patty verliert den Spaß am ehelichen GV auch deswegen, weil Walter, bekennender Feminist und aufs unglücklichste stets auf Political Correctness bedacht, sich auch im Bett zu „demokratischer“ Gegenseitigkeit verpflichtet sieht, was zu den entsprechenden krampfhaften Bemühungen führt, und diese wiederum zu weiterem Abgeturnt-Sein auf Pattys Seite, und so fort;
wenn dies auch nur kursorisch – auf 1,5 dennoch langen Seiten – durchgeführt wird, bleibt mir, dermaßen mit Intima bedrängtem Leser, nur, mich widerstrebend mit dem „armen Walter“ zu identifizieren oder der, gleichfalls schon bereit gestellten, Alternative zuzustimmen und ihn lächerlich zu finden.
Make it Ridiculous: Wir erinnern uns: auf diesen Trichter kam in den „Korrekturen“ schließlich Chip, als es darum ging, einen zu persönlichen, zu komplizierten und zu aufge-sex-ten Text publizierbar zu machen. Schon dort mit zweifelhaftem Erfolg.
Sollte mildes Lächeln unsere einzige Reaktion, mildes Selbsterkennen der einzige Ertrag sein, wenn wir die nächsten 500 Seiten, die gewiß mit komplizierten Ehebrüchen weitergehen werden, durchstehen?
(Fazit)
Was immer passieren wird, die „Korrekturen“-gestählten Leser werden diesen extrem gegenwärtigen Roman – der sogar, laut Klappentext, noch eine große Wende in Pattys Leben bereit hält – nur was abgewinnen können, wenn sie sich das Ganze als eine große Versuchsanordnung vorstellen:
Schwer durchschnittliche Amerikaner, in ihrem Skrupeln und Misserfolgen und Fehleinschätzungen uns schrecklich ähnlich, werden auf einen Parcours geschickt, in Beziehungen verstrickt, bei dessen Durchlauf und bei deren Entwirrung sich erweisen soll, ob sie durchkommen, zu was ihr Leben taugt und ob es überhaupt Spaß macht. Wir Leser wiederum hätten zu prüfen, ob Jonathan letztlich anständig mit seinen Figuren umgeht.
Wenn Denise, deren lesbischem Coming-out in den „Korrekturen“ einige leidlich verunglückte Männerbeziehungen vorausgingen, unter anderen mit einem Arbeitskollegen ihres Vaters, wenn ihr aufgeht, dass ihr Vater mehr von ihr weiß als ihr lieb sein kann; dass er im Wissen um ihr Unglück, um sie zu schützen, eine für ihn selbst äußerst unvorteilhafte Entscheidung trifft, die ihn dazu dem Vorwurf der Schroffheit, ja Unzurechnungsfähigkeit, aussetzt, wenn Denise also endlich dieses alles kapiert, geht ihr durch den Kopf, „es könne hierin ein gewisser Trost enthalten sein, wenn es ihr nur gelänge, diesen Gedanken (nämlich beschützt worden zu sein) im Kopf zu behalten.“
Witziger weise ist genau Dieses eine mögliche Gebrauchsanleitung zur erneuten Franzen-Lektüre.