Zivilcourage
Inhalt
An Orten, wo Welten aufeinander prallen, entstehen Konflikte. Die fiktive Hausmannstraße im Berliner Kiez ist so ein Ort: Deutsche, Türken, Italiener, Serben, Bosnier…Menschen mit unterschiedlichstem kulturellen Hintergrund leben auf engem Raum nebeneinander, manchmal miteinander, aber auch zunehmend gegeneinander. Rauer werdende Sitten, Schmutz und Gewalt bestimmen den Alltag, das soziale Milieu kippt, viele Familien, die es sich leisten können, ziehen in andere Stadtviertel. Oft bleiben nur Langzeitarbeitslose zurück, die sich längst aufgegeben haben.
Peter Jordan, die Hauptfigur des Films, bleibt aus anderen Gründen: Er gehört zur Generation der 68er, die, wenn schon nicht die Welt, so doch das Leben in der Bundesrepublik verändern wollten. Wegziehen hieße für ihn Verrat an eigenen Idealen, das Eingeständnis, im gutbürgerlichen spießigen Leben angekommen zu sein, gegen das man vor Jahrzehnten noch aufbegehrt hat. Jordan (glänzend besetzt mit Götz George) ist Buchhändler und lebt in einer Art literarischen Elfenbeinturm seines Antiquariats zwar mitten im Kiez, aber doch durch Gitter vor Türen und Fenstern von der bitteren Realität abgeschottet. Zwei Ereignisse konfrontieren Jordan kurz hintereinander mit der Wirklichkeit in seinem Viertel.
Zum einen beginnt Jessica ein nicht ganz freiwilliges Praktikum in seinem Laden, um einem drohenden Schulverweis zu entgehen. Sie ist ein typisches Opfer verfehlter Bildungspolitik: Sie wirkt einerseits intelligent und schlagfertig, andererseits macht sie jedoch einen völlig ungebildeten Eindruck. Jordan muss feststellen, dass seine Praktikantin nach den vielen Schuljahren gerade mal die Lesefertigkeit einer Erstklässlerin besitzt. Mit ihrer schnoddrigen Art und ihrem Gossenjargon bietet sie ihm mehrfach einen Grund für den Rausschmiss, doch Jordan hat irgendwie an ihr einen Narren gefressen und will ihr zunächst helfen, das Praktikum durchzuziehen, damit sie wenigstens die Chance auf einen Schulabschluss behält.
Dann wird Jordan auch noch Zeuge, wie Kollaczek, ein im Viertel lebender Penner, von einem Jugendlichen brutal zusammengeschlagen wird. Der 15-jährige rastet völlig aus und tritt immer weiter auf sein Opfer ein, obwohl dieses schon völlig blutüberströmt am Boden liegt und sich kaum noch rührt. Jordan beobachtet geschockt die nächtliche Szene, zögert zunächst, beweist dann jedoch Zivilcourage und rettet durch sein Eingreifen Kollaczek das Leben. Erst einmal hat das mutige Handeln keine negativen Konsequenzen für den Buchhändler. Doch bei seiner Vernehmung als Zeuge erkennt er den Täter wieder: Dem mehrfach vorbestraften Afrim Lima droht durch Jordans Angaben eine Gefängnisstrafe. Afrims großer Bruder Dalmat, der seit dem Tod der im Bürgerkrieg umgekommenen Eltern das Sorgerecht für Afrim besitzt, versucht das zu verhindern. Mit Drohungen und Gewalt will er Jordan dazu bringen, seine Aussage zurückzuziehen.
Beide Handlungsstränge kreuzen sich, denn Jessica ist die Freundin des Schlägers Afrim und außerdem ebenfalls Zeugin der Tat. Zunächst ergreift sie Partei für ihren Freund und deckt ihn bei der Polizei. Nicht zuletzt durch Jordans beharrliches Verhalten verändert sich ihre Haltung jedoch und letztendlich ist sie es, die Afrim hinter Gitter bringt. Dem Regisseur gelingt das Kunststück, Gesellschaftskritik mit einer äußerst spannenden Handlung zu koppeln, die den Zuschauer bis zum Schluss vor dem Fernsehgerät fesselt. Der Film liefert keine fertigen oder platten Wahrheiten, das Handeln der Protagonisten ist plausibel und nachvollziehbar. Man kann Verständnis für das Handeln aller Figuren entwickeln, ihre Motive werden nacherlebbar. Somit wird es dem Zuschauer nicht unbedingt leicht gemacht, Partei zu ergreifen.
Zivilcourage ist ein Film, der bewegt und tiefe Empfindungen wie Wut, Bestürzung, Angst, Mitgefühl oder Empörung erzeugt. Ein Grund hierfür ist die völlig realistische Handlung, die in vielerlei Hinsicht an Alltagserfahrungen des Zuschauers anknüpft und existenzielle Fragen aufwirft. Man kommt nicht umhin sich zu fragen: Wie würde ich in dieser Situation handeln? Mit dem Film wird unserer Gesellschaft ein Spiegel vorgehalten, dessen Bild nicht sehr schmeichelhaft ist: Die sehr angespannte soziale Situation großer Bevölkerungsteile, Sozialneid, Überforderung von Justiz und Polizei bei der Strafverfolgung, Migration und mangelhafte Integration und nicht zuletzt der Bildungs(not)stand vieler Jugendlicher.
Fazit
Die WDR-Produktion ist auf keinen Fall solchen Zuschauern zu empfehlen, die auf eine Heile-Welt-Berieselung a la Rosamunde Pilcher hoffen, die ihr Gehirn mit dem Einschalten des Fernsehgerätes automatisch ausschalten oder die das Verhalten der 3 Affen: „Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen“ zur ihrer Devise gemacht haben. Freunden anspruchsvoller Unterhaltung (im doppelten Sinne) wird die Produktion jedoch ein Genuss sein, der zur Diskussion anregt.