Und die Ratte lacht von Nava Semel
Inhalt
„Ich war ihre Tochter. Die Tochter meiner Mutter und meines Vaters. Ich liebte sie. Das könnte der Anfang sein. Nein. Das würde das Ende der Geschichte bedeuten, noch bevor sie begonnen hätte. Auch wenn sie sie in ihrem Innern verschlösse, würde die Geschichte ausbrechen und sie mit ihren Stacheln verletzen. Einige dieser Stacheln hatten sich zersetzt oder waren abgefallen, und sie hatte gehofft, die Zeit würde alles zuverlässig abdecken, was man besser vergaß, was man noch nicht einmal sich selbst erzählen sollte. Und wenn sie manchmal versuchte, ein Aufflackern der Erinnerung herbeizurufen, wehrte sich ihr Gedächtnis und verweigerte die Mitarbeit. Nur wenn sie abgelenkt war, jenseits der Selbstbeherrschung, wurde sie gestochen, tauchten die Stacheln auf und zwangen sie tief hinein in die Geschichte.“
Aus der Perspektive der alten Frau, die 1999 in Tel Aviv ihrer Enkelin beim Schreiben eines Aufsatzes über ihre Kriegserlebnisse in Polen hilft, erleben wir die Tragödie eines während des Zweiten Weltkrieges bei einer Bauernfamilie in einem Erdloch versteckten jüdischen Mädchens, das von den Eltern verlassen und vom Bauernsohn missbraucht, Freundschaft mit einer Ratte schließt.
Nava Semel komponiert in fünf zeitlich weit auseinander liegenden Handlungssträngen die Erlebnisse der alten Frau zu einem komplexen Ganzen. Wir erfahren, wie die geliebte Enkelin im Dialog mit der Großmutter zwar keine Geschichte geboten bekommt, aber dafür eine eigenwillige Legende zur Erschaffung der Welt: Die Ratte und das Mädchen! Diese Legende, die sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte und verschiedene Generationen zieht, führt uns zu einem menschlichen Abgrund, einer Art Loch innerhalb des noch Sagbaren, wo Worte, Sprache, ja die Stilmittel der Literatur versagen und ein dem Animalischen verwandtes Schweigen regiert, dem das Buch seinen trotz allem überzeugend positiven Titel verdankt.
Das Tagebuch eines katholischen Priesters, der sich des verwahrlosten Mädchens nach seiner Befreiung aus dem Erdloch angenommen hat und dadurch in eine Glaubenskrise gerät, klärt im letzten Kapitel die schreckliche Wahrheit auf…
Der erschütterte Leser stellt sich die Frage: Was kann ein fünfjähriges Mädchen mit einer Ratte teilen, wenn nicht das Lachen über alles, was urmenschlich ist? Ein schwieriges Thema, ein abgründiges Thema, welches Nava Semel in ihrem im Persona Verlag erschienenen Roman „Und die Ratte lacht“ mit großer Souveränität meistert. Dass dieses Verbrechen gelesen, ja mitgefühlt werden kann, ohne dass wir in die Fallen von Mitleid, Verdrängung, Sensationslust und aufgeheizter Betroffenheitsmoral treten, liegt nicht zuletzt an der ungewöhnlichen Form, die unterschiedliche literarische Stilrichtungen geschickt miteinander verbindet.
Fazit
Nava Semels Buch raubt uns den Atem. Es zwingt uns in den Moment der größten und tiefsten inneren Stille, in dem die Worte und ihre so weit über dem Leben stehenden Heldengeschichten einmal schweigen und wir voller Andacht dem lauschen, was uns Menschen zu Ratten, was die Ratte so menschlich macht.